Alles wie es war
Die Engel, die Hirten, Maria und Josef, die Weisen aus dem Morgenland. Normalerweise schlüpfen jedes Jahr tausende von Kindern in die Rollen hinein und beschenken uns am Heiligabend in vielen Kirchen mit ihrem Krippenspiel. Danach gehen sie nach Hause, um sich selber beschenken zu lassen. Nur der Stall bleibt in der Kirche und die Krippe und darin das Kind in Windeln gewickelt.
Es ist eigentlich noch alles wie es war, so wie es viele der Älteren auch aus der eigenen Kindheit kennen. In all den Veränderungen der Zeit - die Weihnachtsgeschichte ist noch wie sie immer war. Sie ist ein Stück unvergänglicher Heimat. Alle Jahre wieder können wir in sie zurückkehren, uns miteinander erinnern, wo wir herkommen und welcher himmlischen Heimat wir entgegen gehen. Vielleicht noch ein letztes Mal das Weihnachtsfest feiern, zusammen sein mit der Familie: „Ach Kinder“, sagt die 85 jährige Dame, „es ist so schön mit euch Weihnachten zu feiern, aber ich glaube es ist das letzte Mal.“ Aber weil es so schön ist, bleibt sie doch noch 15 Jahre am Leben und wird fast 100. So sind - jedenfalls in normalen Jahren - viele am Heiligabend versammelt, um die alte Geschichte noch einmal neu zu hören: Die Weihnachtsgeschichte des Lukas.
Es ist tatsächlich noch fast genau der gleiche Wortlaut, wie Martin Luther ihn in seiner Bibel von 1545 übersetzt hat. Von Zeit zu Zeit nehme ich diese alte Lutherbibel von damals in die Hand. Viele Worte versteht man dabei heute kaum noch, weil die Sprache sich verändert hat, weil jede Generation anders spricht. Die Älteren merken das spätestens, wenn ihre Enkel ihnen sagen „Oma du bist echt cool und der Opa ist voll krass“.
Ebendeswegen machen sich von Zeit zu Zeit Professoren und Oberkirchenräte an die Revision der Bibel, um den alten Luther an moderne Sprache anzupassen. Nur mit der Weihnachtsgeschichte ist das anders. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas, die ist noch genauso wie damals: unverändert - bis auf die neue deutsche Rechtschreibung.
Die unveränderte Weihnachtsgeschichte, der vertraute Klang in den Ohren, die alten Lieder - wir Menschen brauchen dieses Stück Heimat, das uns von der Kindheit bis ins hohe Alter bleibt als Zeichen einer großen Treue über unserem Leben. Da ist die heilige Familie, da ist der alte Stall und - so hat es die spätere Tradition hinzugefügt – da finden wir auch Ochs und Esel mit ihren Eigenarten.
Mancher geht am Heiligabend auch in die Kirche, um sich zu vergewissern, dass noch alles so ist wie es war.
Ich denke noch an jene Dame, die mich nach Weihnachten anrief: „Also Herr Pfarrer, das hat mir bei ihnen an Heiligabend aber überhaupt nicht gefallen. Kein Krippenspiel, die Weihnachtsgeschichte wurde nicht gelesen und die meisten Lieder habe ich auch nicht gekannt.“ Ich war etwas verdutzt, weil ich mir keiner rechten Schuld bewusst war, aber dann hatte ich einen Verdacht. Ich fragte sie: „Wann waren sie denn da?“ „Ja, zur Christmette um Mitternacht.“
„Ja, da hatten wir die Geschichte doch schon dreimal gelesen oder gespielt und genauso oft `O du fröhliche´ gesungen oder `Ihr Kinderlein kommet´. Kommen sie doch nächstes Jahr zur Vesper. Da sind sie besser dran.“
Weil wir Menschen verschieden sind feiern wir auch in verschiedenen Formen. Aber in aller Verschiedenheit der Gottesdienste zu Weihnachten steht doch das Gemeinsame und Verbindende in der Mitte. Im Zentrum die Krippe als zentrales Heilssymbol. Hier beginnt die Christenheit. In der Botschaft des Engels taucht das Wort „Christus“ zum ersten Mal auf. Hier ist der erste Christ. „Fürchtet euch nicht! Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids.“
In der Botschaft des Engels steckt schon der ganze christliche Glaube. Da finden wir alles, was wir brauchen für ein Leben in Frieden und Wohlgefallen: Es geht um Entängstigung. In all dem was damals und heute in dieser Welt zu fürchten ist, da ist auch immer ein Engel, eine gute Macht, stärker als alle Angst. Es geht um Aufklärung in der Nacht. Der Lebensweg wird klar. Es geht um große Lebensfreude - gemeinsam mit allem Volk.
Es geht um ein himmlisches Geschenk, der Heiland - ein Geschenk, das die Verletzungen, Verwundungen und Kränkungen des Lebens heilt.
Mit dem Kind in der Krippe kommt eine große Ruhe, Stille und Gelassenheit in unser Leben. Ich habe Zeit. Ich muss nicht mehr alles selber machen, nicht mehr alle Ziele erreichen. Da ist ja ein Kind. Das führt auch meine Geschichte weiter zu einem guten Ende.
Christus, dem König der Könige, sind die tiefsten, beschämensten und entwürdigensten Erfahrungen, die Wunden und Verletzung des Lebens nicht fremd. Am Ende wird das Kreuz zum Zeichen dafür. Diese Erfahrungen sind ihm auch schon in die Wiege gelegt: kein Platz für dieses Kind in der Herberge. Ein Futtertrog muss als Bett herhalten. Was hier geboren wird, weiß niemand zu schätzen - außer ein paar armseligen Hirten. Aber wenn Gott auf diese Art zur Welt kommt, dann integriert er all dieses Armselige und Erbärmliche und Beschämende so in seine Lebensgeschichte, dass es zum Spannungsmoment wird für eine noch viel größere Freude. „Er ist einer von uns“, können die Hirten sagen. Er ist einer mit ihrem Stallgeruch - der Christ.
„Der Heiland ist euch geboren“, verkündigt der Engel. Gott glaubt an euch Menschen! Ob wir allerdings auch an Gott glauben ist noch eine andere Sache. Dabei geht es gar nicht mal so sehr um ein für-wahr-halten oder spekulieren über himmlische Dinge. Glaube - da geht es ganz praktisch um die Frage: Gehen wir jetzt los, um nachzuschauen oder gehen wir nicht? Setzt diese Nachricht mein Leben in Bewegung? Kann ich ihr vertrauen? Welcher Impuls geht weiter, wenn die Engel wieder im Himmel sind? Wird daraus eine neue Geschichte?
„Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die uns der Herr kundgetan hat.“ So beenden die Hirten die Debatte um die himmlische Erscheinung. Sie gehen, sie eilen. Da ist mit der Botschaft des Engels eine Lebensenergie in ihnen drin, die vorher nicht da war.
Sie bereichern die Krippe um ihre Existenz. Sie erzählen vom Wunder des Lebens, und alle, denen sie begegnen, wundern sich mit ihnen. Dann gehen sie wieder ihrer Arbeit nach.
Diese Arbeit ist noch die gleiche wie vorher. Es ist noch genauso dunkel in der Welt wie vorher und doch ist jetzt etwas anders. Sie sind nun aufgeklärt. Sie wissen: in dem Kind in der Krippe ist der Heiland da. Das Schwere wird leicht. Das Dunkle wird hell. Die Geschichte hat einen Sinn. Sie geht gut aus.
Auch wir sind ein Teil dieser Geschichte bis auf diesen Tag heute. Die Krippe steht unverändert in der Mitte als Symbol des christlichen Glaubens - jedenfalls zur Weihnachtszeit. Ob in Handarbeit geschnitzt oder im Baumarkt gekauft oder vielleicht als Geschenk aus dem Erzgebirge erhalten - in vielen Familien wird die Krippe in diesen Tagen zum Hausaltar: Hier ist meine religiöse Heimat. Und wenn es draußen ganz dunkel ist und wir uns wegen der Pandemie nicht treffen können, dann bleibt immer noch die alte Tradition des Hausgottesdienstes wieder zu entdecken. Wenn am Weihnachtsbaum die Lichter brennen wird diesmal vielleicht nicht nur ein Engel da sein, sondern gleich zwei werden hereintreten und ihre Botschaft verkünden: Fürchtet euch nicht, das Heil ist da.